Als Klettermaxe laufen lernte

Holzschnitt, Erfurt 1544, Sebastian Münster, Basel

Ein Blick über die Türme Erfurts hinweg in unerreichbare Fernen

(Detail aus: Sebastian Münster, Basel, 1544. (1.Auflage)


Mein Urgroßvater Theodor hatte auch zu den Mutigen gehört. In Honolulu ging er gesund vom Schiff. An die 70 Schicksalsgenossen, meistens Kinder, waren unterwegs gestorben. Die Sandwichinseln waren damals noch ein Königreich. Ich habe seine von vielen Händen abgegriffenen Briefe an die im Thüringer Wald zurückgebliebene Frau verschlungen. Ihr hatte der Mut gefehlt. Wasser habe keine Balken. Keine Märchenprinzessin hatte einen so schönen Namen wie seine Königin: Liliuokalani, und nirgendwo schien der Tisch so reichhaltig gedeckt zu sein wie in Theos neuer Heimat. Wie gut, daß meine Vorstellung meilenweit hinter der Wirklichkeit herhinkte. Nur denken, ich wäre damals beim Öffnen eines Erdofens danebengestanden, und der köstliche Bratendurft wäre mir wirklich in die Nase gestiegen.

Ein Blick wie auf das Gelobte Land entstand nämlich zwischen den Zeilen: Brot wuchs auf Bäumen, Zuckerrohr am Wegrand, süßes Obst jede Menge. Wir wären weit gewandert, um einmal richtig satt zu werden, hätten sie uns nicht die Welt mit Brettern vernagelt gehabt. Wir gaben uns nicht damit zufrieden und rüttelten an allen Enden. Stinkbomben und Tränengas haben wir daheim im Bastellabor produziert und wollten uns damit einen kleinen Freiraum schaffen. Mit großem Erfolg, wenn deshalb die Lateinstunde ausfallen mußte. Sicher war es nicht notwendig, aus Freiheitsdrang den Turm der Erfurter Humboldtschule zu besteigen, aber es half, Mut und Hoffnung nicht ganz zu verlieren und der eigenen Kraft zu vertrauen.

Die Erfurter Humboldtschule vor dem Bombenangriff vom 19.2.1945 Den stolzen Wilhelminischen Bau krönte seit 1909 wie eine Pickelhaube die Sternwarte unserer Stadt.

Das Observatorium war wegen nächtlichen Fliegeralarms schon lange nicht mehr öffentlich zugänglich. Wir träumten davon, dort oben einen Blick durchs Fernrohr auf die damals für uns Jugendliche verrammelte Welt zu werfen. Verrammelt natürlich nur für solche ohne Tigerpanzer, Stahlhelm und MG 42 in Feuerstellung. Klingsors Zauberspiegel aber - Sie wissen schon, der aus Wagners Parsifal - krönte unsere Humboldtschule am Reglerring, Ecke Meyfarthstraße. Wie kam einer dort hinauf?

Dr.Sorgel, unser Lateinlehrer

Rentner Prof. Dr.Sörgel, 1941 wieder in den Schuldienst geholt, versucht nägelkauend, uns Latein einzutrichtern. Wen interessierte damals Latein! Uns allen stand Fronteinsatz und Heldentod bevor.

Wir nahmen in Richtung auf unser Ziel den schwierigsten Weg in Angriff. Als Teil der Brandwache, die jede Nacht unter uns Schülern abwechselte, hätten wir auf einem Kontrollgang nur den Schlüssel aus der Tasche zu ziehen brauchen und schon wären wir dagewesen. Das hielt ich damals für unwürdig. Wir wollten uns unser Glück verdienen.

Der Blick durch das Zeiss-Rohr war das heißersehnte Ziel meiner Wünsche gewesen. Von dort würden meine Augen über alle Kirchturmdächer Erfurts hinweg bis zum Reiterlein auf dem Großen Wagen schweifen können und vielleicht noch viel weiter. Ob es den kühnen Anhalter mitnehmen würde? Ich wäre auch mit einem Deichselplatz wie es selbst zufrieden gewesen, Wolf hin oder her. Wer hat sich damals nicht alles um jeden Preis weit weg gewünscht. Wie aber dort hinaufkommen? Immer der Wand lang natürlich. Der Wand nach oben! Es wurde daraus eine Erstbesteigung und nicht wiederholbar. Reinhold Messner hat was versäumt.

Unser Aufstieg über die Turmkante

Die bequemen Eckquader der Turmkante boten uns sichere Tritte und Griffe. Spannend wurde es erst, als die vorspringende Plattform über unsere Köpfe hinausragte.

Nebenbei bemerkt: Was für eine heile Welt war das noch um 1908, als Baumeister Fassadenkletterern ohne Hausschlüssel alternative Zugänge anboten. Der Baustil war damals noch so treudeutsch. (Falls das Wort einem Heutigen noch was sagt!)

In einer sternenklaren Nacht also, als meine Unterprima wieder zur Brandwache eingeteilt worden war mit dem Auftrag, funkensprühende Phosphorbomben mit einem nassen Scheuerlappen zu löschen, band ich mich mit Hans Behla ans Kletterseil, das uns der Alpenverein geliehen hatte, aber natürlich nicht für dieses Unternehmen, sondern zur vormilitärischen Ertüchtigung, wie wir behauptet hatten, und los ging's über die steile Kante himmelwärts. Eine Viertelstunde nach Mitternacht war es gerade, als wir auf der Höhe der linken Turmuhr angekommen waren, denn ihr großer Zeiger zeigte wie drohend genau auf uns und schien zum Greifen nahe, war es aber natürlich nicht. Da durchfuhr uns ein großer Schreck. Zu unseren Füßen marschierte eine Polizeieinheit vorbei. Keiner von denen hob zum Glück den Blick zur Turmuhr herauf.

Die sogenannte Schlüsselstelle verbarg sich unter dem Überhang rings um die Kuppelplattform. Der Blitzableiter aus handwerklich noch soliden Tagen enttäuschte unser Vertrauen nicht. Umso mehr die vorausschauende Vorsicht unseres Studienrats Priem, kaum waren wir durchs kleine Fenster eingestiegen. Da durchzuckte uns ein gewaltiger Schreck. Das erste, was wir im dunkeln erkannten, war Priems weißer Arbeitskittel, den er in jeder Erdkundestunde trug. Er wird uns nicht aufgelauert haben? Nein, der Kittel rührte sich nicht. Er hing leer auf einem Bügel uns gegenüber an der Wand.

Das war nicht alles. Er hatte die kostbaren Okulare des Fernrohrs mit nach Hause genommen. Der Blick in den Weltraum fiel aus. So überlebten sie im Februar 1945 die Zerstörung, wie das vorher auch noch in Sicherheit gebrachte Fernrohr. Nach dem Krieg wird es auf der Cyriaksburg einen neuen Standort finden. Ironie der Geschichte: Auch dort wird es von neuem und diesmal über vier Jahrzehnte hinweg vielen Thüringern die einzige Möglichkeit bieten, über die mörderische Stacheldrahtgrenze hinweg wenigstens mit den Augen in himmlische Regionen zu schweifen, da die irdischen damals noch unendlich viel weiter entfernt waren.

Ob wir Schüler der Brandwache die Bombenangriffe überlebten, stand damals nicht zur Debatte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ein block burster - Made in USA - hat unsere Schule sauber weggebürstet samt aller elf Schüler und Lehrer mit ihrem nassen Feudel in der Hand. Block buster kamen erst später rüber, diesmal also Bestseller, woraus man sieht, wieviel von einem „r“ und tiefsitzenden Rechtschreibregeln abhängen kann. Wobei aber auch die Bombenproduktion mit Sicherheit kein Verlustgeschäft für den amerikanischen Produzenten gewesen war.

Standfester haben sich mir gegenüber in späteren Jahren die Felstürme der Südtiroler Dolomiten behauptet. Sie krönte aber auch nur ein Gipfelkreuz. Trotzdem glaube ich, ging dort oben der erhoffte Blick viel weiter als nur bis zum Mann im Mond.

Was alles aus so einer verdrängten Wanderlust eines Tages entstehen kann, darüber erzählt der Wegweiser „Wanderjahre“ mehr.

Die Humboldtschule nach der Zerstörung am 19.2.45

Der rechte Gebäudeteil wurde später wieder verwendet.

Das längliche, ebenerdige Pausenklo jenseits vom Schulhof hat Stinkbomben und Sprengbomben bis heute überlebt.



Leider sollte es nicht bei diesem einen Angriff bleiben, der 200 Erfurtern das Leben kostete. In der Nacht darauf erlitt das Augustinerkloster aus dem 13. Jahrhundert, in dem Martin Luther als Mönch gelebt hatte, dasselbe Schicksal.

Meine Eltern überlebten den Rest des kalten Winters ohne Fensterscheiben. Mangels Postverbindung erfuhr ich das alles in Südtirol erst zwei Jahre später.

Mit nicht geringem Stolz habe ich viel später im Erfurter Stadtarchiv entdeckt, daß mein Humboldtturm am 19.2.45 zwar schwer beschädigt worden war, aber nicht sofort einstürzte.


This page always under construction